Die folgende Geschichte habe ich ca. um Allerheiligen letzten Herbst verfasst, nachdem ich einer Intuition folgend versucht habe meine Mutter zu zeichnen wie es ihr wohl jetzt „auf der anderen Seite“ ergeht und was sie wohl dort jetzt so macht. Daraus ist dann auch gleichzeitig die Geschichte entstanden.
Hast du dich schon mal gefragt, was die ganzen toten Menschen eigentlich so tun nachdem sie mal gestorben sind? Da gabs’s damals auf der Erde ja allerhand interessante Theorien dazu: man würde in einer Art zeitloser Flammenhölle bis in alle Ewigkeit so richtig gut durchgegart werden. Zumindest falls man sich so manches erlaubt hatte was ein paar bestimmten Personen die sich für recht weise hielten missfallen hatte. War man ihren Anweisungen hingegen gefolgt, so wartete auf einen paradiesische Zustände: ewiges Glück!
Andere meinten das Ganze sei gar keine Einbahnstraße, und man würde flugs in einem neuen Körper wiedergeboren werden – je nachdem ob man den Ansichten wiederum anderer großen weisen Menschen gefolgt war oder eben nicht, war man dann eben beim nächsten Mal ein Prinz oder ein Regenwurm. Irgendwie fast so etwas wie fair.
Die Langweiligsten behaupteten, es wäre dann halt einfach vorbei, und weder davor noch danach hätte es was gegeben. Die rieten dann oft dazu, von vornherein aufzugeben und sich sterben zu legen. Oder alternativ alles an Leben aufzusaugen was zu kriegen war. Man lebte ja, wie sie meinten, „nur einmal“.
Tja, mein Guter, und jetzt bin ich tot und muss feststellen dass die werten Herren (seltsamerweise sind diese schlauen Menschen ja meistens männlich) da nicht die ganze Wahrheit erzählt haben. Oder vielleicht auch etwas übertrieben haben mit ihrer angeblichen Allwissenheit. Zugegeben, teilweise war schon was dran an den Erzählungen. Aber hätte ich vorher gewusst was mich erwartet, wär ich wohl ein wenig entspannter an mein vorheriges Erden-Leben herangegangen.
Weißt du, ich war da mal so ein Exemplar der Kategorie Mensch, weiblich, Mitteleuropa, Ende 20. Jahrhundert. Jaja, damals hielt ich das tatsächlich für relevant. Naja, war ja auch nicht alleine mit dieser Idee. Vielleicht hatte ich mal so etwas wie eine Intuition, dass das nicht alles sein mochte. Aber ich war auch ein wenig zu „schüchtern“, da was dagegen zu sagen.
Anfangs habe ich all den Ballast auch hier noch weiter mit mir rumgeschleppt. Mensch, weiblich, Mitteleuropa, Ende 20. Jahrhundert, all das und noch vieles mehr. Aber dann hab ich festgestellt dass nicht alle dieser Kategorien noch groß Sinn ergeben wenn man erst mal tot ist. Warum nicht auch mal Mann spielen? Oder Ziege? Diese typischen Ziegenbärte, die fand ich immer schon genial. Dafür musste ich nur die fixe Idee aufgeben, ich könne niemals eine Ziege sein…
Das klingt jetzt für dich womöglich erstmal etwas lächerlich. Natürlich war ich ja ein Mensch und keine Ziege, wie könnte es anders sein? Aber andererseits: wenn ich je nachdem wie ich mich anhand womöglich recht willkürlich aufgestellter Kriterien verhalten habe im nächsten Leben ein Prinz oder ein Regenwurm sein werde – warum dann nicht jetzt gleich eine Ziege?
Gewissermaßen hatte ich auch das lehrreiche Glück, eine alte Freundin wiederzutreffen, die vor einigen Jahren gestorben war. Sie war sehr christlich gewesen, klassische alte Schule, mit Fegefeuer und allem was dazugehört. Die war leicht zu finden, die Flammen waren noch aus einiger Entfernung zu sehen gewesen. Als ich mich wunderte warum sie in Flammen stand und ich nicht (sie war doch von uns beiden mit Sicherheit die „Tugendhaftere“), wollte ich ihr zurufen dass ich bei ihr sei und ihr helfen würde. Aber sie rief nur „Ich verbrenne! Ich büße! Ganz alleine! Ewiges Fegefeuer!“ und so Zeugs. Vor lauter Flammen hat sie mich wohl nicht hören können. Irgendwann hab ich sie dann darin gelassen. Offensichtlich war genau das die Erfüllung all ihrer lebenslangen Träume. Warum ihr ihre Freude daran nehmen?
Ein anderer alter Bekannter war auch irgendwie interessant anzusehen: der kam immer wieder etwas verwirrt dahergetorkelt, um dann in einer Wolke zu verpuffen und danach was daherzufaseln von „Schon wieder ein blöder Regenwurm! Warum nur?!“
Irgendjemand den ich nicht persönlich gekannt habe ist dann auch mal vorbeigeschwebt, in so einer Art Stasis, mit so himmlischer Verzückung im Gesicht. Wirkte ja nicht unangenehm, aber irgendwie sah es auch ein wenig dämlich aus von außen. Auch nicht so mein Ding.
Da dämmerte mir, dass wir womöglich einfach erlebten was wir glauben erleben zu müssen. Und ich dachte mir: wenn ich was erleben will, dann möchte ich wissen wie es ist eine Ziege zu sein. Frag mich bitte nicht warum. Fand ich nur irgendwie immer schon interessant, so Ziegen. War auch echt fein für eine Weile. Dann war ich mal ein Vogel. Wer will nicht erleben wie es war durch die Lüfte zu segeln?
Und irgendwann wurde mir klar dass ich mich an einem Ort befand, an dem ich reines Potential war, an dem ich mich nicht mal mehr an irgendwelche mir bekannten Formen halten musste in meinem Schaffensdrang. Ein Regenbogen-Ziegen-Schmetterling? Natürlich!
Nun stehst du hier an jenem besonderen Ort, den du „Friedhof“ nennst, und glaubst ich wäre dort zu finden. Als ob mich Orte noch binden könnten! Als ob ich die Welt in der du dich bewegst vermissen müsste!
Geh, mein Lieber, lass dich von mir nicht aufhalten, und schon gar nicht von angeblich so weisen Worten irgendwelcher Menschen die dir die ganze Wahrheit vorenthalten wollen: Du bist frei! Frei, ein Regenbogen-Ziegen-Schmetterling zu sein. Frei, dir dein ganz persönliches Fegefeuer zu erschaffen, in dem du dich suhlst und so richtig schön alleine sein kannst. Dein ewiges Paradies, in dem du diesen verzückten Vollidioten-Blick mit dir herumtragen kannst. Was auch immer – fürchte dich nicht allzu viel vor der Grenze, und schon gar nicht von dem dahinter.
Alles was sich dort verändert ist dass der Blick klarer wird, weil du deine vermeintliche Geschichte mehr und mehr abstreifen kannst – wenn du das willst. Der Blick dafür, was in dir ist. Was dich noch davon abhält, es ins Außen zu bringen. Manche müssen die Grenze überschreiten, manche sogar mehrmals – das sind dann oft diejenigen, die die Idee der Reinkarnation prima finden. Anderen reichen bereits einige wenige Grenzerfahrungen.
Trauer mir nicht nach, ich bin ja ohnehin nicht weit fort. Nur knapp über der Grenze, da dreh ich halt jetzt meine Runden, schau dir von dort zu und hab meinen Spaß als Regenbogen-Ziegen-Schmetterling. Früher oder später sehn wir uns ja ohnehin wieder, auf dieser oder jener Seite, was macht das schon aus? Zeit… ist hier noch ein ganzes Stück relativer geworden.
Hast du eigentlich schon meine neueste Idee bemerkt? Blätter als Füße! Ha! Muss gleich mal rausfinden wie sich die im Flug anfühlen, und wie ich die dimensionieren muss dass die gut ausbalanciert sind!
Und da wusste ich, dass es ihr gut geht dort drüben.