„Betreten verboten“.
Etwas an jenem Ort ließ ihn innehalten. Da war… Kraft zu finden in den tosenden Wassermassen, die durch das Wasserkraftwerk strömten. Der innere Widerstand, der Drang zur Konformität mit Regelungen, war heute nur seltsam abgeschwächt in ihm zu vernehmen. Und so folgte er ihr. Über den unter dem Andrang der durch tagelangen Regen und der einsetzenden Schneeschmelze angeschwollenen Fluten leicht schwankende Übergang aus Beton. Auf jene kleine mit Felsen bestückte Insel. Inmitten alles mitreißender Wassermassen, im Auge jenes Sturms, ließen sie sich nieder.
Hier, eigentümlich entrückt jener Welt des Alltäglichen, schien das Unaussprechliche Form annehmen zu können: Er hatte damals einen ungerechten Frieden akzeptiert, um jenen zu schützen, den er sich bedingungslos zu lieben verpflichtet wähnte. Nicht weil er Angst vor seinem Gegenüber gehabt hatte. Sondern weil er Angst davor gehabt hatte, was er jenem antun mochte, würde er all die Wut und Empörung an die Oberfläche treten lassen. Warum unterdrückte er all dies seit Jahren, warum wendete er dermaßen viel Energie darauf auf, die Konfrontation zu verhindern, auch wenn es ihn offensichtlich körperlich wie seelisch schleichend vernichtete? Da war Raum in ihrem fragenden Blick, Raum für die ganze Wahrheit.
„Weil ich kein Mörder sein will“, gestand er ihr stockend, entsetzt über die Macht seiner inneren Bilder. „Und er womöglich die Wahrheit nicht ertragen kann.“
Plötzlich war ihm, als müsse er in den Fluss. Zum Fluss werden. Entledigte sich seiner Schuhe, trat einige Schritte hinaus in die Fluten.
„Schrei es heraus!“, versuchte sie ihm Mut zu schenken.
„Ich tu mir so schwer mit sowas!“, rief er verzagt zurück. Nahm einige Steine aus dem Flussbett, spielte mit ihnen herum. Bemerkte, wie sich seine Atmung mit dem Auf und Ab des Flusses einzustimmen begann. Das Wasser mochte eisig kalt sein, aber Äußeres wurde ihm zunehmend egal.
„RAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH!“ ertönte es hinter ihm. Sie war mit ihm. Schenkte ihm Kraft, Mut.
„RAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH!“, erklang es erneut hinter ihm. Er begann zu schwanken, tiefer in den Fluss zu stolpern. Die Jeans hatte er bis zu den Knien aufgerollt gehabt, um sich nicht zu erkälten. Aber alle weise Voraussicht begann zunehmend an Wichtigkeit zu verlieren, während Vergangenheit und Zukunft zusammenschrumpften, bis sie in einem einzigen Punkt, der Gegenwart, kulminierten. Nun stand er fast bis zur Hüfte in den tosenden Wassermassen. Bekam endlich einen größeren Stein zu fassen, berührte Grund, spürte Kraft in der resultierenden Gegenkraft.
„RAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH!“
Der Stein erreichte beinahe das andere Ufer. Sein Körper begann immer unkontrollierter zu zucken, als sich die so lange aufgestaute und nun aufgepeitschte Energie gegen die selbst auferlegten inneren Schranken warf. Würde sie ihn nicht für völlig verrückt halten? Doch sie lächelte ihn nur weiter aufmunternd an.
„RAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH!“
Und der schützende Damm brach endlich völlig durch.
Wie lange er in den Wassermassen herumgestolpert war, wusste er nachher nicht mehr. Für einige Momente schien der Impuls fast übermächtig zu werden, noch tiefer hinein zu waten, sich von der Strömung tragen, mitreißen zu lassen. Da war so viel Tod in jenem Ur-Schrei gewesen, so viel Ungeborenes, Ungelebtes, das der unheiligen Gewalt des vermeintlich Notwendigen geopfert worden war, eine unüberschaubare Kettenreaktion an Verstrickungen, über Generationen hinweg. Aber da war auch dieser Mensch am Ufer, der ihm ein „Bitte bleib“ vermittelte. In dem so etwas wie eine lange verloren geglaubte Heimat zu finden war. Da war eine Alternative über jenen plötzlich so willkommen scheinenden Tod hinaus. Durch den Schmerz hindurch.
Vor Kälte zitternd, am Ende seiner körperlichen und seelischen Kräfte, erreichte er das Ufer, wo sie ihn umarmte und ihm lächelnd seinen Sweater überreichte. Völlig durchnässt brachte sie ihn nach Hause. Ließ ihm ein heißes Bad ein. Brachte Tee, Kekse, Liebe dar.
An jenem denkwürdigen Nachmittag, inmitten der Fluten und getragen von ihrer Liebe, hatte er es endlich vollends spüren können: es war sein Geburtsrecht, das er damals geopfert hatte, um diejenigen, die er liebte, vor ihrem eigenen Schmerz zu schützen. Ein Geburtsrecht, dass auch jene sich selbst einst verboten haben mussten. Das ihnen Angst machte, weil mit seiner Macht auch die Übernahme echter Selbstverantwortung und damit ein Wegfallen der allzu bequemen Opferthese einhergehen musste. Hatte unter Aufbringung all seiner Kraft das Aufwallen jener mächtigen Lebenskräfte in Zaum gehalten. Sich eingereiht in die lange Reihe seiner Vorfahren, die ebenso jenem lebensverneinenden Muster gefolgt waren.
Jenem anderen Pfad zu folgen, das eigene Geburtsrecht eines kraftvollen eigenen Weges anzunehmen und zu verteidigen – allzu viele „Betreten verboten“-Hinweise schienen dem im Weg zu stehen. Doch wie stabil war jene Welt der Verbote wirklich, und vor allem: wie notwendig? Was würde geschehen, würde jemand den Mut aufbringen, dem eigenen Pfad zu folgen, auch auf das Risiko hin, auf Widerstand zu treffen? Auch in der Bereitschaft, auftretendem Widerstand bisweilen zu überwinden, zu kämpfen, anstatt von vornherein Konflikten aus dem Weg zu gehen? War es wirklich vorrangige Aufgabe, bequem zu sein?
„Betreten verboten“, war wohl auch einmal auf dem Schild zu lesen gewesen, das die Grenze des damaligen Kriegsschauplatzes kennzeichnete. Doch die Schrift war mittlerweile verwittert, die einst verbrannte Erde fühlbar schwanger mit neuem Leben, wenn es auch noch nicht durch die alte Staubschicht gebrochen, sichtbar geworden war. Seine Wasser, einmal entfesselt, würden auch diesem Ort einen Neubeginn schenken. Hier war vor vielen Jahren eine Wahrheit gestorben. Weil er und andere sich aus vermeintlicher Liebe geweigert hatten, das ganze Ausmaß ihrer Macht einzusetzen, sie zu verteidigen. Hier erneut Fuß zu fassen würde eine Konfrontation womöglich unvermeidlich machen. Aber dieses Mal hatte er die Lügen durchschaut, die die Opferung der Wahrheit nur vermeintlich rechtfertigten.
Er nahm etwas Erde, wie er einige Tage zuvor einige Steine aus dem Flussbett genommen hatte, und schrieb lächelnd auf das verwitternde Schild: „Willkommen“. Zeit, andere Wege zu beschreiten. Setzte sich an jenen ihm für so viele Jahre verbotenen Ort. Tauchte ein in die Macht der Erde unter ihm, des Himmels über ihm, der Sonne, der Sterne, des Windes, des Flusses, des Lebens, von dem er sich nun endlich, nach so vielen Jahren, wieder hemmungslos umspülen, tragen zu lassen vermochte. Etwas in ihm war entfesselt worden, ein lange verloren geglaubtes Geburtsrecht wieder errungen und eine Wahrheit offen ausgesprochen. Dieses Mal würde er wohl nicht mehr vor der ihm eigenen Macht zurückschrecken, sondern sich ihr öffnen, hingeben, anvertrauen.
An jenem so lange verbotenen Ort der Wahrheit, zuhause in seiner Kraft, ihrem endlich wieder ungestörten Fluss, erwartete er die Ankunft seines Vaters.