Ein bisschen lächerlich fühlte er sich schon. Seit längerem hatte er sich gefragt, warum er eigentlich tatsächlich nie Alkohol trank, und war der Antwort bisher immer ganz gut aus dem Weg gegangen. Jedes Wochenende war es ein sich wiederholendes Phänomen, dass der am wenigsten Betrunkene die anderen nach Hause brachte, und über die letzten zehn Jahre war er des Öftern dieser am wenigsten Betrunkene gewesen. Immer wieder war er gefragt worden, warum er nichts trinke, und im Grunde war ihm kein sinnvoller Grund eingefallen, dafür aber die sich schlau anhörende Antwort „Warum sollte ich schon etwas trinken?“. Das brachte ihm meistens entweder Respekt ein oder ein zum Schweigen gebrachtes Gegenüber, das ihn fortan mit dieser Frage in Ruhe ließ und sich andere, willfährigere Gefährten für seine alkoholischen Genusserlebnisse suchte.
Fragen hatten die bedrohliche Eigenschaft, dass sie nach Antworten verlangten. Und weil er es geübt war, anderen Fragen zu stellen, die sie in der Tiefe aufwühlten und die Wahrheit ans Licht brachten, war der Versuch einer Verteidigung gegen die ihn nun mit sich selbst konfrontierenden Fragen im Grunde zwecklos. Fast drei Monate war er den Fragen nun recht erfolgreich ausgewichen, nun aber zerrten sie die Antwort gnadenlos in sein Bewusstsein: ja. Es mochte von außen kaum erkennbar sein, mochte als mentale Stärke, als überragende Selbstkontrolle interpretiert werden, aber im Grunde war er doch in seinem mangelnden Vertrauen auf sich selbst zurückgeworfen.
Doch einmal zugelassen, brachten die Fragen noch ganz andere unerwünschte Folgefragen in sein Bewusstsein. Er hatte sich mit verdächtig vielen Menschen umgeben, die ihn brauchten. Wenn er von anderen gebraucht wurde, so war es wohl selbstverständlich, für den anderen da zu sein. Er selbst brauchte niemanden. War der große Held, der zwar bisweilen ein wenig an seiner Überschätzung, an seiner Selbstaufopferung litt, aber er kam klar. Zwei Tage im Bett, alles wieder gut.
Entwicklungshilfeprojekte kam ihm in den Sinn, und dass diese häufig Abhängigkeits-Situationen kreierten, die dann – um als Projekt Spenden etc. lukrieren zu können und die Initiatoren zu ihrer Arbeit zu berechtigen – darauf angewiesen waren, dass es weiter Menschen gab, die sie auch brauchten. Die damit ein – oft unbewusstes – Eigeninteresse daran hatten, dass es den ihnen anvertrauten Menschen nie so gut ging, dass sie selbst überflüssig wurden. Hatte auch er Menschen, denen er angeblich „half“, durch seine eigene Notwendigkeit, „Helfer“ zu sein, geschadet?
Die Antwort tat weh, denn wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er auch diese Frage bejahen. Er hatte Menschen um sich gebraucht, die ihn brauchten, um sich der Frage zu entziehen, was er selbst brauchte. Er hatte diese Menschen gefunden, gewissermaßen an sich gebunden, um nie in die Situation zu kommen, nicht im Außen gebraucht zu werden. Ehrlichkeit tat weh, war schwer auszuhalten, aber nach all den Jahren spürte er auch, dass es nun kein Zurück mehr gab, dass er sich nun endlich dem stellen musste, was er all die Jahre erfolgreich vermieden hatte.
Sie hatte ihn sicher heimgebracht, hatte ihn etwas ausgelacht und gemeint: „Das nennst du ‚dich betrinken‘?“, aber darum war es nicht gegangen. Er hatte ihr vertraut. Sie hatte sein Vertrauen gerechtfertigt. Erstaunt wurde ihm bewusst, dass er nun gefühlt wieder freier atmen konnte, dass sich ihm eine Welt der Möglichkeiten eröffnete, die er vor vielen Jahren aus Unwissenheit und Verletztheit bereits abgeschrieben hatte. Liebe durchströmte ihn, Neugier auf diese Welt, die nur darauf wartete, entdeckt, erfühlt, erschmeckt, erlebt zu werden. Sie lächelte ihn im Dunkeln an.
Nun endlich, nach beinahe zehn Jahren, war er nun endlich nicht mehr in letzter Konsequenz allein.