„Warst du jetzt eigentlich schon bei einem Psychologen?“
Als wäre es gegebene Sache, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Dass an seinem Erleben etwas nicht ganz oder auch überhaupt nicht richtig war. „Es gibt heutzutage schon gute Medikamente“ hatten die beiden ihm gesagt, hatten ihm in ihrer Fürsorge angeboten zu helfen. Wollten ja nur, dass es ihm gut gehe. Es sei alles nicht weiter schlimm. Er mochte ein wenig angeknackst sein, aber das könne man reparieren. Einrenken. Geradebiegen. Dann würde es ihm besser gehen.
Nein, er war noch nicht bei einem Psychologen gewesen.
Ja, er fühlte sich manchmal müde und erschöpft, wenn er sich intensiv mit Emotionen befasste, seien es seine eigenen oder jene anderer, die sich ihm anvertraut hatten. Nicht immer glich sein Energielevel den ruhigen Wassern eines Sees an einem windstillen Tag, konstant, verlässlich, abgewogen und angepasst an die Notwendigkeiten des jeweiligen Tages vorportioniert. Sein Leben und Erleben war ein stürmischeres, ein ungeschützteres, war.. gewissermaßen näher dran an der eigenen Natur. Er litt stärker unter der Kälte der Winter, und er freute sich mehr über das sanfte Kitzeln der Sonnenstrahlen. Verließ sich in vielen Fällen auf die oft beinahe unheimliche Weisheit seiner Intuition, ihn durch die Höhen und Tiefen seines Lebens zu leiten, dorthin, wo rationaler Verstand allein versagte. Mochte Narben davontragen, mochte – im Außen wie im Innen – berührt, verändert, gestaltet werden in seinem Tun, mochte oftmals weniger über den Dingen stehen denn mitten unter ihnen. Aber was war daran denn so dermaßen falsch?
Er war durchaus bereit zu glauben, man könne ihn mit den richtigen Medikamenten gut „einstellen“, die Anstrengungen seiner emotionalen Betroffenheit, die er in sich und mit der Welt oftmals spürte, reduzieren, um ihm seinen Alltag zu erleichtern. Ihn bereiter zu machen für jene andere Welt, in die er zuweilen nur mit Mühe zu passen schien, jene Welt des „Das ist nun einmal so“, die ihm, seinem Erleben und seiner Erfahrung so fremd war. Es mochte möglich sein, ihn mit Hilfe der richtigen Medikamente und Therapien zu „heilen“, aber heilen wovon eigentlich? Wer profitierte denn davon? Er selbst, indem er die Tiefe seines bisherigen Erlebens zugunsten eines reduzierteren, funktionaleren Lebens aufgab, obwohl ihm doch gerade jene Tiefe bei aller damit verbundenen Anstrengung im Grunde die schönsten Momente seines Lebens geschenkt hatte?
Verstanden hätte er es, wenn er sich in seiner Besonderheit als unfähig erwiesen hätte, selbstständig zu leben. Wenn er – wie so manche seiner Bekannten – etwa jahrelang den Verwandten und Freunden finanziell oder emotional „auf der Tasche liegen“ musste. Tatsächlich war es jedoch eher umgekehrt – er war finanziell seit Jahren unabhängig und kümmerte sich auch emotional mehr um andere, als dass jene sich um ihn zu kümmern hatten. Natürlich, er gab weniger aus als die meisten seiner Mitmenschen, war achtsamer im Umgang mit seinen Ressourcen, brauchte daher auch kaum ein Einkommen – aber war denn dies allein ein Verbrechen? Wenn er selbst also kein Problem mit seinem besonderen Erleben hatte und als Folge dieses Erlebens auch niemanden belästigte, warum also der so „fürsorgliche“ Rat, sich doch behandeln zu lassen, um eine angeblich „positive“ Veränderung zu bewirken?
Die einzig logische Antwort, die ihm nach längerem Nachdenken einfiel, so verwegen sie ihm auch klang, war eine riesige Angst vor dem Neuen, dem Fremden. Er war wohl so manchem Freund, manchen Familienmitglied über die Jahre fremd geworden, indem er Wege beschritten hatte, auf die der jeweils andere ihm nicht mehr zu folgen vermochte oder folgen wollte. War unabhängig geworden in einer Weise, die alte Strukturen in Frage stellte. Strukturen, die ohne ihn als haltende Stütze plötzlich brüchig zu werden drohten. Hatte Zusammenhänge gesehen, die es ihm nun verbaten, weiterzumachen wie bisher. Konnte nicht stagnieren, verharren. Es war ihm notwendig, Schritte zu setzen, in Bewegung zu kommen, auch wenn sein Geist noch nicht fähig war, das oder überhaupt ein Ziel zu benennen, auch wenn jeder Schritt schmerzen mochte: er vertraute seiner Intuition. Und anders als viele seiner Mitmenschen kam er trotz aller Hindernisse trotzdem früher oder später dann auch tatsächlich in Bewegung.
Was für eine Hexenjagd, dachte er plötzlich, und mit dem Wort erlangte er die Klarheit, nach der er wochenlang gesucht hatte, nachdem man ihm zum ersten Mal die Frage nach dem Psychologen gestellt hatte. Denn warum sonst hatte man die angeblich so bösartigen „Hexen“ Jahrhunderte lang verfolgt, denn aus Angst vor ihren tieferen Einsichten, der Freiheit und damit der Macht über sich selbst, die sie angeblich daraus zu ziehen vermochten? Hatte argumentative Wege gefunden, das Rechtsprinzip der Unschuldsvermutung zu verkehren. „Warst du jetzt eigentlich schon bei einem Psychologen?“, mehrmals nun gehört, war ja wenig mehr als eine höflichere Form von: Hast du jetzt eigentlich schon an deiner Normalität gezweifelt? Und die unterschwellige Annahme, dass eine Abweichung von einer angenommenen „Normalität“ alleine bereits ein zu lösendes Problem darstellte.
Wo war denn nun eigentlich die Grenze zu ziehen zwischen der „Normalität“ und dem Außen, und wovon oder von wem wurde sie gezogen? Waren die Grenzen der „Normalität“ nicht auch ein Produkt der Art der Strukturierung einer Gesellschaft, und damit auch eine Frage der Machtverteilung? Was, würden all die „Hexen“ nicht zum Psychologen gehen um geheilt zu werden, sondern zu anderen, erfahreneren „Hexen“, um zu lernen, ihre Einzigartigkeit konstruktiv nutzen zu können anstatt sie wegwünschen weg-therapieren zu müssen?
Aber wo waren sie nun zu finden, all die anderen „Hexen“? Verteilt auf die Irrenhäuser der Welt, in den Ausspeisungen der karikativen Einrichtungen, in den Zeitungsmeldungen über die jährliche Selbstmordstatistik? Ängstlich und oft scheiternd versuchend, ihr Sein zu verleugnen, sich einzufügen in eine Welt, in der kein Platz für sie zu finden war? Die Methoden waren durchaus verfeinert worden in den letzten paar Jahrhunderten, und eine medikamentöse Behandlung zur Ausrottung gewisser Besonderheiten konnte man mit gutem Willen als humaner ansehen als die Ausrottung eines ganzen Menschen, und doch erkannte er nicht ohne gewissem Schauder altbekannte Muster.
„Warst du jetzt eigentlich schon bei einem Psychologen?“, erneut. Lauernd.
Nein, und an sich sah er auch keinen Grund, einen zu besuchen. Wohl aber, gut auf sich zu achten und auch seine ihm eigenen Besonderheiten wertzuschätzen und zu lernen, sie konstruktiv einzusetzen. Denn was waren sie am Ende anderes als beeindruckende Fähigkeiten, fast jenem gleichkommend, was gemeinhin und unverstandenerweise als Magie bezeichnet wurde? Es konnte ganz schön verstörend sein, als „Hexe“, als „Abnormal“ angesehen zu werden, aber in gewisser Weise hatte ihn die Jagd erst dazu gebracht, seinen besonderen Wert und seine Fähigkeiten klarer wahrzunehmen. Warum das Spiel nicht umdrehen?
Und in einem ihm typischen Anflug der Erkenntnis der Absurdität der ihn umgebenden Ordnungen, dem Rausch der Freiheit, die ihm seine Erkenntnis wie so oft ermöglichte, erkannte er als den Grund warum er bekämpft, reduziert werden sollte, verblüfft seine eigene Überlegenheit in diesem Spiel. Doch er kannte das Terrain besser, war tiefer eingedrungen in die Höhen und Abgründe der menschlichen Existenz als seine Häscher.
„Warst du jetzt endlich mal bei einem Psychologen?“
„Nein, danke, mir geht’s gut soweit. Und dir?“
„Gut, gut. Wie immer halt“
„Das klingt aber gar nicht gut. Vielleicht solltest du mal einen aufsuchen…“