Er war ein Niemand der Straße. Einer der Gesichtslosen, die der unaufmerksame Passant sofort als Penner aus seiner Wahrnehmung verbannte. Der gedankenverloren Melodien aus besseren Tagen nachsann und sich selbst auf seiner alten, nicht mehr stimmbaren Gitarre begleitete. Lange schon hatte er verstanden, dass es ohnehin niemanden interessierte, wie gut er spielte oder wie genau er einen Ton traf. Manche warfen ihm etwas in den Hut, andere gingen achtlos an ihm vorbei, aber was er tat, interessierte niemanden. Das Geld, das gerade eben zum Besänftigen des Hungers reichte, bekam er bedingungslos. Alles, was er darüber hinaus brauchte, etwa um die Miete für ein Zimmer zu bezahlen oder gar so etwas wie tatsächlich beachtet zu werden, war ihm seit zu vielen Jahren verwehrt geblieben, als dass er sich noch Hoffnungen darauf machte.
Umso mehr verwunderte es ihn nun, als er aufblickte und ein junges Mädchen mit vielleicht siebzehn Jahren vor sich stehen sah. Eine Weile lauschte sie still seiner Musik, und fast fühlte er so etwas wie eine Verbindung zwischen ihnen aufkommen. Doch das war natürlich lächerlich. Das Mädchen war gut gekleidet, kam sichtlich aus einem völlig anderen Umfeld als er selbst. Vielleicht war sie eine Sozialarbeiterin, die ihm eine Freude machen wollte. Eigentlich war es ihm gleichgültig. Er spielte, sie hörte zu, und der Regen, der auf das Wellblech seines Unterstandes trommelte, lieferte den Rhythmus für seine Melodien.
Erst als sie bereits lange gegangen war, kam ihm ein Gedanke, für den sein sozial eingerostetes Empfinden zu lange gebraucht hatte, ihn zu formen, als dass er noch etwas unternehmen hätte können: Noch nie in seinem Leben hatte er solch traurige Augen in solch einem Kind gesehen. Es war eine Traurigkeit gewesen, die ihn trotz all der Jahre der Lethargie nun in einer Weise überflutet hatte, wie es der nie enden scheinende Regen niemals vermocht hatte.
Es waren dieselben Augen wie damals gewesen. Damals, als er zu beschäftigt gewesen war, in diese Augen zu blicken und das drohende Ende zu sehen. Er hätte sie retten können, damals, hätte seine Frau retten können, und sich selbst mit ihr. Doch er war zu beschäftigt gewesen, und nun lag sie unter der Erde, und er war von einem Jemand zu einem Niemand geworden. Ein Niemand, der gerade die Chance, den Fehler seines Lebens wiedergutzumachen, verstreichen lassen hatte, weil er die Kluft zwischen diesem Kind und sich selbst als zu weit wähnte. Es waren dieselben Augen gewesen, Augen, die still nach Hilfe schrien. Sie war zu ihm gekommen, weil sie sich in seinen Augen erkannte.
Überall glaubte er sie nun zu sehen, als Schatten im Nebel, entlang der Ufer des Flusses stehen, bereit, sich hineinzustürzen, oder auf den Schienen liegend. Er rief in die Dunkelheit, verfolgte Schatten, doch er wusste, dass er sie nicht finden würde. In ein paar Tagen würde er in einer der Gratis-Zeitungen lesen, dass ein junges Mädchen tot aufgefunden worden war, aus gutem Hause, ohne ersichtlichen Grund, und Tage darauf würde die Welt sie vergessen haben. Doch ihn würden diese Augen verfolgen, wohin er auch wanderte. Denn zum ersten Mal seit Jahren hätte Niemand etwas tun können.
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