Fern von hier lebt eine junge Frau in einem etwas seltsam anmutenden Haus. Es ist irgendwie nicht so ganz gerade geworden, das Haus, man könnte sagen: windschief, und die meisten Menschen, die daran vorbeigehen, können vor Neugier gar nicht anders, als stehenzubleiben und hineinzusehen. Manchmal haben sie dann Glück, und die junge Frau führt sie durch das Wunder, in dem sie viele ihrer Tage verbringt. Nein, gebaut hat sie es nicht, dieses Haus. Und trotzdem scheint sie es beinahe zu atmen.
Wenn sie dann diesen seltsamen Ort wieder verlassen, fühlen die Besucher oftmals noch eine Art „Nachklingen“, nur ohne einen dazugehörigen Ursprungston gehört zu haben.. Als würde etwas von diesem Haus, von dieser Umgebung, sich an ihnen festgehaftet haben.. Ein Gedanke, eine Idee… vielleicht auch eine Möglichkeit? Aber mit der Zeit verblasst ihnen dieses Gefühl, und sie kehren zurück in die so wohlbekannte Welt ihres Alltags, vergessen diesen Ort und seine so sonderbare Bewohnerin.
Denn sonderbar, so wirkt sie wohl, jene junge Frau. Als wäre sie die rechtmäßige Erbin dieses Hauses, obwohl erdacht von einem anderen Geist, in anderen Zeiten, für andere Zwecke. Als würde sie sich diesen Ort angeeignet, Teil von ihm geworden sein. Verwurzelt.
Vielleicht ist es diese Art von Verbundenheit, die dem zufälligen Besucher als erstes auffällig wird, dieses so sonderbare Fehlen von Distanz zwischen der jungen Frau und jenem Ort, diese Art von Hingabe, von Eins-Werdung. Wie liebevoll sie mit der Pflanze spricht, die sie gerade gießt, mit dem Habicht, der über dem Tal seine Schwingen ausbreitet, sogar mit dem Raum selbst – beinahe möchte man glauben, sie würde tatsächlich Antworten erwarten, würde tatsächlich mit allem um sie herum kommunizieren, seien es Tiere, Pflanzen, Räume, Orte. Wenn sie lapidar erzählt, sie hätte vor einigen Tagen eine kiloschwere Schiefer-Platte aus dem nahegelegenen Fluss den ganzen Weg hierhergeschleppt, weil sie sich von ihr.. angesprochen gefühlt habe.. und der Besucher dieselbe Schieferplatte nun am Küchentisch in für das Auge kaum ertragbarer Schönheit als Fundament einer Art von Gesamtkunstwerk wiedererkennt.. man möchte beinahe glauben.. ebenso sehen..
Aber natürlich siegt am Ende doch meist die Vernunft, die eine rote Linie an der Grenze zum Unbelebten zieht. Mit Tieren, mit Pflanzen sprechen, nun, das mag noch angehen, was weiß die Wissenschaft schon auszuschließen, dass nicht auch Tiere und Pflanzen kommunizieren und jemand nicht mit viel Geduld ihre Sprache erlernen kann? Aber mit Steinen, Räumen, Orten? Das geht dann doch zu weit. Diese Grenze zu überschreiten hieße, der eigenen Verrücktheit Tür und Tor zu öffnen.. und wo käme man denn da noch hin, diese inneren wie äußeren Pforten aufzustoßen?
Die junge Frau aber sieht den verwirrten, an Verzweiflung grenzenden Blick des Besuchers und erkennt mit einem Hauch von Heiterkeit wie wehmütiger Erinnerung ihr früheres Ich in jenen Augen. Bietet dem jungen Mann Tee an, bereits wissend, dass er ablehnen und diesen Ort so rasch er kann kopfschüttelnd verlassen wird. Vielleicht wird es ihm möglich sein, niemals wiederzukehren. Ihr war dieser einfache Ausweg nicht vergönnt gewesen. Als sie zum ersten Mal den „Geist“ eines Raumes wahrgenommen, seine Bedürftigkeit nach höherer Ordnung, ja beinahe nach Liebe gespürt hatte, zum ersten Mal be-geistert gewesen war von einem Ort, der Andeutung eines Gegenübers, nur dunkel erahnend, dass sie – noch fast blind – einer Quelle nachspürte, die von Menschen über den ganzen Erdball und alle Menschenalter gesucht worden war, hatte sie noch nicht so recht gewusst, was sie erwarten würde, wusste es bis heute nicht – folgte im Grunde nur stets aufs Neue in lichteren Momenten dieser leisen Ahnung, dass sie sich auf einem richtigen Wege befand.
Manchmal, selten, erfüllen sie dann doch Zweifel. Wer bin ich denn, was bin ich wert im Spiegel der Welt? Und dann fragt sie sich, wie sie sich und der Welt wohl beweisen könne, dass sie auch wirklich begeistert sei, von Geist erfüllt, und weiß doch – als ungeborene Gewissheit, noch ohne es sich und anderen eingestehen zu können – dass diese Art von Geist und Intuition sich eben gerade nicht beweisen, vorführen, in Formen pressen und verkaufen lässt. Dann quält sie sich, der Illusion der Notwendigkeit folgend, jemand anderes zu sein, ein Spiegel für die Welt des Normalen, um die Menschen im Außen nicht verwundern zu müssen, ihnen nicht Wunder zu sein. Will untergehen in einem Meer der Gleichartigkeit und Gleichgültigkeit.
Denn sie praktiziert eine sterbende Kunsttradition, und weiß es.
Und doch ist es gerade diese Seltenheit, diese Besonderheit ihres Erlebens, der ihr neben all dem Schmerz der Vereinzelung auch eine Verantwortung aufbürdet, die Aufgabe, eben nicht aufzugeben. Es gibt nur noch so wenige von uns, dass die Entscheidung eines jeden einzelnen zählt.
Die Kunst der Begeisterung ist eine lebensspendende Kunst. Ohne sie stirbt uns unsere Umgebung aus dem Bewusstsein hinfort. Andere mögen abbilden, sichtbar machen, die Begeisterung jedoch stellt den Ursprung, den ersten Riss in der Mauer zwischen uns und der Welt dar. Sie erschafft das Leben nicht, aber macht es uns erst lebendig erfahrbar.
Was also ist sie wert im Spiegel der Welt, diese sonderbare junge Frau? Viel, sagen diejenigen, die sie im Ansatz ihrer Tiefe kennengelernt haben. Wenig bis nichts, eine Nummer in einer Statistik, sagt eine Gesellschaft, die es im Angefühl der Sättigung versäumt hat für jene zu sorgen, die sie mit Lebendigkeit versorgen. Aber Menschen machen auch nur einen verschwindend geringen Anteil all derer aus, mit denen sie tagtäglich zu tun hat.
„Ich liebe es, dich zu wärmen“, erzählt ihr morgens die Sonne.
„Ich liebe es, dich mit meinem Gesang zu wecken“, der Vogel, der unter dem Dachbalken wohnt.
„Ich liebe es, in deinem wallenden Haar zu spielen“, der Wind.
„Ich liebe es, deine Seele zu tragen“, singt der Waldboden ihr sein Lied.
Und wieder verklingen all die anklagenden Stimmen, sie solle doch endlich erwachsen werden, sich einen Job suchen, im steten Strom der Gezeiten, und eine heitere, wohlige Gelassenheit erfasst sie.
Wenn ihr nur wüsstet…
Ja, wenn all jene nur wüssten, sehen, spüren könnten.. wenn man nun auch andere begeistern könnte? Das, so fühlt sie nun, das wäre nun wirklich große Kunst.. Eine Lebensaufgabe.. vielleicht, so beginnt sie nun zu ahnen, ist es nicht die meine, mir noch quälend einen Job zu suchen, wo doch tagtäglich mich findet, was zu tun bereit und notwendig sich anfühlt, um die Lebendigkeit zu erhalten.
Natürlich hat sie den Gedanken nicht bis zur letzten Konsequenz zu Ende geführt. Sie mag etwas Besonderes sein, an ein Wunder grenzen, ist aber doch einem allzu menschlichen Sein entwachsen und in all den Zweifeln und Achtlosigkeiten verwurzelt wie andere Menschen ebenso. Und doch.. ist sie eine sehr außergewöhnliche junge Frau. Vielleicht wird der Tag noch kommen, an dem sie ihre Geschichte umzuschreiben bereit ist und statt nur ein „Wenn ihr nur wüsstet..“ zu denken mit sicherer Stimme sprechen kann: „Sehet!“
Möge jener Tag nicht mehr fern sein.