„Ich will gerade nicht mehr darüber sprechen“, meinte sie, und am anderen Ende blieb es tatsächlich still. Die Pause zog sich in die Länge, die Worte wollten sich nicht bilden. Atem besetzte die Leitung.
„Ich möchte dir etwas Seltsames beschreiben“, setzte er an, hoffend, durch eine Einleitung in Fluss zu kommen, „Je mehr ich dir zugehört habe, desto weniger konnte ich etwas fühlen.“
„Weißt du, ich glaube, wir sind uns da in unserer Verletzung sehr ähnlich.“
Plötzlich kehrte das Gefühl in seinen Körper zurück. Schmerzhaft.
„Ich glaube, du hast Recht“, murmelte er nachdenklich, „der einzige Unterschied war – “
Die Leitung war tot. Verzweifelt drückte er die Anruftaste. Noch einmal. Es hatte keinen Zweck.
Rationale Nachdenklichkeit wich zunehmend emotionaler Betroffenheit. Warum musste die Verbindung auch gerade jetzt abbrechen? Rastlos bewegte er sich in der Wohnung umher, setzte sich, stand wieder auf, nahm ein Buch zur Hand, las ein paar Zeilen, versuchte es noch einmal bei ihr, gab es auf. Fing an, Ordnung in der Wohnung zu schaffen, um sich zu beschäftigen, abzulenken.
Ich glaube, wir sind uns da in unserer Verletzung sehr ähnlich, hatte sie gesagt. Welche Verletzung? Es war doch normal, dass junge Erwachsene ab einem gewissen Alter unabhängig von ihren Eltern wurden, auf eigenen Beinen standen. Was hätte ihn daran verletzen sollen?
Du hast den Schock des Eintritts in das Arbeitsleben noch nicht ganz überwunden. Wann hatte er diesen Satz gehört, und warum zerrte er gerade dermaßen an seinem Bewusstsein? Warum Schock? Warum Verletzung, bei einem so natürlichen Übergang in die Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit?
Selbstbestimmtheit! Zeit ihres Lebens hatte man ihnen erklärt, sie müssten sich anstrengen im Leben, gute Noten nach Hause bringen, um irgendwann einen guten Job zu ergattern, genug zu verdienen, um sich keine Sorgen machen zu müssen. Und nun? Bei einem Tag mit acht Stunden Schlaf, zwei Stunden für Nahrungsaufnahme und Hygiene, acht Stunden Arbeit und eine Stunde Zeit für den Transport von und zur Arbeit waren die restlichen fünf Stunden „freier“ Zeit auch schon beinahe vernachlässigbar. Und erst das, was man gemeinhin „Urlaubszeit“ nannte: im Durchschnitt ganze fünf Wochen im Jahr, und selbst über diese Zeit durfte man im Regelfall nicht frei verfügen. Und was bekam man im Gegenzug dazu? Solange man sich diesen Bedingungen beugte, durfte man – meist – hoffen, auch im nächsten Monat und Jahr unter ähnlichen Bedingungen geduldet zu sein. Und hatte man gut gearbeitet, hatte man sich den Feierabend oder Urlaub „verdient“, hatte man sich einen Bruchteil der Zeit, die man auch ohne Arbeit zur Verfügung gehabt hätte, wieder „erarbeitet“. Welch Irrsinn so ein „normales“ Arbeitsleben im Grunde doch war, war die Grundbotschaft doch im Grunde ein „Sei, wie andere dich haben wollen, dann darfst du sein“.
„Was willst du einmal werden, wenn du mal groß bist?“ war man gefragt worden, und stolz, mit Hoffnung im Herzen, hatte man geantwortet, man werde Arzt, Techniker, Lehrer, Schriftsteller. Kinder wussten noch nichts über das große Theater, das sich Arbeitswelt nannte. Die meisten wurden am Ende irgendeine Variation der üblichen Schauspieler und spielten ihre Rollen, ob sie sich nun Buchhalter, Arzt, Lehrer oder Marketing-Mitarbeiter nannten, bis sie im Alltag vergessen konnten, dass es auch hinter den Rollen einst noch etwas Eigenständiges gegeben haben musste. Die nachdenklicheren unter ihnen schlitterten von Depression zu Depression oder vegetierten als Aussteiger dahin, die Anpacker-Typen bereiteten sich länger auf die große Krise mit 50 vor oder hatten das zweifelhafte Glück, vorher abzukratzen, bevor sie erkennen konnten, wie wenig der so einzigartigen Chance, die sie ironischerweise „ihr Leben“ nannten, sie am Ende für die Erfüllung ihrer eigenen Träume genutzt hatten. Welch geringen Unterschied ihre Existenz, ihre besondere Perspektive am Ende gehabt hatte, weil für diese Welt nur zählte, wie gut man seine Rolle spielte, nicht was man in und außerhalb der Rollen wahrnahm und mitzuteilen hatte.
Die Wunde, die Ursache für den Schock war nicht die Realität an sich gewesen, sondern dass sie es gewusst haben mussten. Dass sie jungen Menschen Hoffnung einflößten auf ein Leben als selbstbestimmter „Erwachsener“, wohl wissend um ihre eigene Unfreiheit. Wir sind euch gefolgt, dachte er erschüttert, wir sind euch vertrauensvoll gefolgt, weil wir dachten, ihr hättet den Weg der Freiheit beschritten. Dabei habt ihr euch nur tiefer in Unfreiheit begeben, um eine Illusion für uns aufrechtzuerhalten. Vielleicht dachtet ihr ja wirklich, wir würden es einmal besser haben. Dass sich das Versprechen, dass man euch als Kind gegeben hatte, zumindest für eure eigenen Kinder erfüllen würde, wenn die Welt es für euch schon nicht halten wollte. Nein, ihr habt uns nicht absichtlich getäuscht, unsere Wut richtet sich nicht gegen euch. Sie richtet sich gegen die Alternativlosigkeit, die ihr uns hinterlassen habt, weil ihr am Ende auch nicht wusstet was sonst.
Sein Handy klingelte, ihr Akku war wohl wieder aufgeladen.
„Es tut mir Leid, es liegt nicht an dir, dass ich darüber so schwer sprechen kann“, meinte sie, „aber bei dem Thema werde ich so dermaßen traurig und wütend, das will ich nicht an dir auslassen.“
„Und deswegen schweigen wir darüber?“
„Deswegen schweigen wir darüber.“
Doch dieses Mal drängten sich Fragen in ihm auf.
„Was, wenn wir uns der Wunde stellen würden?“
„Dann stellst du dich nicht nur deiner eigenen Wunde. Was glaubst du, was ich die letzten zehn Jahre deswegen alles durchgemacht habe? Menschen verbluten lieber innerlich, als das Blut sehen zu müssen. Wenn du das Schweigen brichst, reißt du überall um dich schlecht verheilte Wunden auf.“
„Also geben wir die Wunde weiter, verstümmeln irgendwann auch unsere eigenen Kinder?“
„Bist du bereit, die Konsequenzen zu tragen, wenn du es nicht tust? Bist du auf die Einsamkeit vorbereitet, die mit der Entscheidung einhergeht? Können unsere Kinder die Konsequenzen tragen, wenn du es nicht tust?“
„Sie werden Vorbilder brauchen. Echte Vorbilder. Die es wirklich geschafft haben, einen anderen Weg zu gehen. Die sich nicht nur reicher, die sich nicht nur ein bisschen sicherer fühlen können, sondern die Wunde an sich heilen konnten.“
„Ich weiß nicht, ob es ein Heilmittel gi-“
Wieder war die Verbindung abgebrochen, doch dieses Mal fühlte er eine eigenartige Ruhe in sich. Beinahe hatte er das Gefühl, den sanften Fall des Schnees hören zu können. Trat auf den Balkon, genoss die plötzliche Kälte und die Stille der Winternacht.
Warum schweigen wir noch darüber?
Warum gehen wir noch die selben Wege?
Warum schlagen wir uns tagtäglich noch immer die selben Wunden?
Es war bereits dunkel, Menschen schliefen, bereiteten ihre Körper vor für einen weiteren Tag als Schauspieler im wohl absurdesten je geschriebenen Theaterstück. Beinahe hatte er die Schwelle zum Alltag seines Zimmers bereits wieder übertreten, da packte es ihn, und er trat noch einmal forschen Schrittes auf den Balkon. Fühlte, wie sich ein Schrei den Weg aus seinem Innersten bahnte, ein Weckruf für die Verschlafenen, die ihr Leben in dem so alltäglichen Dämmerschlaf der Normalität verträumten, nach all den Eindrücken und Verformungen eines Lebens endlich Ausdruck, Sichtbarmachung, zerschmettert der Mantel des Schweigens. Niemand schien ihn zu hören, aber darum war es auch nie gegangen. Deutlich fühlte er nun das Fließen von Blut aus der frisch aufgerissenen Wunde in seinem Inneren, die seit fast zehn Jahren in ihm eiterte, schwärte und ihn schleichend vergiftete.
Es war zu spät, sie noch einmal anzurufen, deswegen tippte er stattdessen eine Nachricht:
Wenn es irgendwo in dieser Welt Heilung gibt, schrieb er, dann werden wir sie finden.
Zum ersten Mal seit Jahren schlief er wieder tief und vertrauensvoll, wie ein Kind.