Ich möchte mich an dieser Stelle für die lange Pause seit der letzten Veröffentlichung entschuldigen, denn eigentlich versuche ich ca. 1x/Woche eine Geschichte zu veröffentlichen. Es kommt immer wieder einmal vor, dass ich mich in der Illusion verliere, ich müsste vorher etwas abarbeiten/erledigen, bevor ich mich ans Schreiben setzen sollte, obwohl die Erfahrung doch wiederholt gezeigt hat, dass das Schreiben selbst oft der effektivste Lösungsansatz für mich ist. Ich hoffe, in den nächsten Wochen und Monaten trotz vieler noch ungelöster Fragen wieder zu einem regelmäßigeren Schreibrhythmus zu finden. In der Zwischenzeit wünsche ich viel Freude mit dem folgenden Text:
Ein Blick auf den Arbeitsmarkt, ein Blick auf Freunde, Bekannte, Fremde, ein Blick in ihre Gesichter, während sie frühmorgens zur Arbeit trotteten, um spätabends unter dem nebeligen Licht der Straßenlaternen heimzukehren. Wie sie sich ausbrannten in der trügerischen Flamme ihrer jugendlichen Kraft, zu hoch geschürt, zu rasch verzehrt, um lange zu durchzuhalten. Die ausgemergelten Überreste der Glut vergangener Träume in den Augen der Alten. Ein Blick in den Spiegel. Noch ist Zeit. Aber die Jahre, sie verinnen, vergehen, entfliehen! Investieren. Jetzt länger arbeiten, später die Früchte ernten. Sich frei fühlen. Vielleicht auf Reisen gehen. Irgendwann. Sich etwas erarbeiten.
Ein Blick auf sein Konto: klägliche Leere. Zeit seines Lebens war es seine Devise gewesen zu geben, sich einzusetzen für ein größeres Ganzes. Geblieben waren Berührungen, Momente, Erkenntnisse. Eine seltsames Gefühl von Verlust, der keiner war, während sich die Anzahl der Ziffern einer Zahl weiter verringerte, der alle Welt größte Bedeutung zuzumessen schien. Nichts war wirklich gewonnen, nichts verloren, und doch war mit dem Veringern der Zahlen sonderbarerweise ein drängendes Gefühl des Verrinnens von Zeit verbunden. Ich muss etwas tun, fühlte er es in sich aufwallen, und wusste doch nicht so recht, welcherart von Handlung denn nun angebracht sein würde. Nur eines fühlte er deutlich in sich: es war noch nicht genug. Es war noch nicht möglich, sich um Dinge zu kümmern, die ihn im Moment wirklich interessierten. Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Um seinen rebellierenden Geist zu beschäftigen, fütterte er ihn mit einigen Artikeln über Selbstständigkeit, der ihm das Gefühl vermittelte, etwas verwertbares zu tun, während er versuchte, in sich hineinzuspüren. Plötzlich fühlte er in sich eine fast nicht auszuhaltende Anspannung, fühlte, wie verkrampft zahlreiche Muskeln, selbst seine Organe in seinem Körper waren. Kein Wunder, dass er sich oft kränklich fühlte. Bewegung.
Er schaltete den die letzten Tage beinahe ständig benützten Laptop aus und fühlte ein Gefühl der Erleichterung in sich hochschwemmen. Stemmte sich gegen automatisch in ihm aufflammenden Impulse, doch zumindest noch die Emails zu checken oder die Nachrichten zu lesen, nahm die Schlüssel und verließ die Wohnung. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er seit zwei Tagen nicht mehr in die Öffentlichkeit der Straße getreten war. Einen Moment musste er über die Absurdität des Gedankens „Darf ich das?“ lachen, bis ihm schmerzlich bewusst wurde, dass er hierbei nur kläglich tatsächliche Unsicherheit mit Humor zu überspielen versuchte. Die Frage war für ihn durchaus real, war essentiell: durfte er das? War es denn nicht seine Aufgabe, zuerst wieder Arbeit, zu einer Produktivität zurückzufinden? Sollte er sich nicht schämen, immer noch arbeitslos zu sein?
Durch die nächtlichen Straßen wandelnd, fühlte er, dass er seiner Verpflichtung zur Scham durchaus nachkam. Senkte den Blick vor Passanten, fühlte, er habe nichts zu erzählen. Und, was machst du so beruflich? war ihm eine Fangfrage, machte ihm Angst. Was hatte er denn zu erzählen? Wo war denn nun noch sein Wert? Besser jeglichem Kontakt aus dem Weg gehen.
Schließlich gelangte er an das Ufer des großen Stromes, der die Stadt durchzog, lehnte sich an einen gegen jegliche Vernunft mitten in den Strom gewachsenen Baum. Fühlte seine Müdigkeit, eine Müdigkeit in ihrer Intensität weit über jener Müdigkeit nach einem langen Tag vollbrachter Arbeit. Sank kraftlos gegen den Stamm des irregeleiteten Baumes, schmiegte seinen Rücken an diesen Riesen, der wohl Zeit seines Baumlebens gegen widrige Strömungen angekämpft haben mochte – und doch war er da, ragte in seiner einsamen Schönheit über das Wasser. Jemand hatte eine Schaukel an einem Nebenast beschäftigt, und er konnte vor seinem geistigen Auge lachende Kinder unter dem Baum spielen sehen. Wie oft wohl hatte jener Baum über seinen eigenen Wert nachgedacht, sich gefragt, ob es ihm erlaubt sei, hier zu wachsen? Hatte er seinen eigenen Wert anhand einer Tabelle internationaler Holzpreise festgestellt und sich abgemüht, sein Wachstum an edleren Normen zu orientieren? Waren in diesem riesigen Universum tatsächlich nur die Menschen so dermaßen kompliziert?
Mit den Fingern die raue Oberfläche der Rinde nachzeichnend, fühlte sich plötzlich verbunden mit diesem uralten Giganten. Nun war er also ohne geregelter Arbeit, war ihr durch eine Fügung des Schicksals entwachsen wie dieser Baum seinen Brüdern und Schwestern. Was sollte er seine Zeit darauf vergeuden, den Weg zurück zu finden, wo ihm doch das Licht der Sonne andere Wege wies? Weil es bequemer ist, schoss es ihm aus den Tiefen seiner Prägungen, aber nicht einmal der Wahrheitsgehalt dieser Aussage erschien ihm noch wahrscheinlich. Wir lassen uns verarschen, ging es ihm auf, oder wir verarschen andere, nutzen sie aus und fühlen uns unglaublich intelligent dabei. Aber so oder so entkommen wir der Angst nicht.
Nun konnte er den Gedanken endlich greifen und aufrechterhalten. Ja, verdammt, wir haben alle eine tierisch große Angst. Da liegt der wahre Wert einer geregelten Arbeit. Sie lenkt ab vor der wirklichen Arbeit, die uns erwarten würde. Arbeitslos, keine Arbeit, keine Entschuldigungen mehr, sich dieser inneren Arbeit nicht zu stellen. Wir hätten dann zu viel von jener freien Zeit, die sich Arbeitende vermeintlich immer wünschen. Er sah ab von dem alten Giganten und wandte sich den anderen Bäumen am Ufer zu. Für einen Moment dachte ich, der Baum über den Fluss sei euch überlegen, aber auch das stimmt nicht. Ihr seid auf eure Weise gewachsen und er auf der seinen. Ihr bearbeitet eure Aufgaben und ich die meinen.
Es war spät geworden, doch erst jetzt fiel ihm auf, dass er wohl der einzige Nachtwandler im ganzen Stadtteil sein mochte. Ein leichter Nieselregen zeigte sich im Schein der Straßenlaternen entlang der Uferpromenade. Das Rauschen des Flusses übertönte auch noch die letzten Reste der üblichen akustischen Hintergrundkulisse der Stadt. Seine Einsamkeit in ihrer Tiefe erspürend, traf er unerwartet auf festen Grund, ihn und die Begrenztheit seiner Gedanken und Ängste erschütternd, öffnend, einatmend die Welt um ihn herum, und für einen kurzen Moment lösten sich die Schleier von seinen Augen, er fühlte sich eins mit dieser ihm so fremden Welt, durchschaute die Illusion ihrer Unterschiede, dann jedoch ausatmend, Trennung, Isolation wiedererfahrend. Staunend löste er seine Hand vom Stamm des alten Baumes, sich erinnernd an die Weisheiten, von denen ihn seine Ängste abzuhalten pflegten. Die Angst, die Hast, das Gefühl der Dringlichkeit, sie würden wiederkehren wie sie es immer zu tun pflegten, doch für einen beinahe heiligen Moment hatte er sich un-bestimmt, frei gefühlt, und auch wenn der Alltag jene Momente rasch mit dem Zauber des Vergessens zu bedecken pflegte, würde er ihn in sich aufbewahrt wissen, von ihm zehren können in den dunklen Stunden der Ungewissheit und der Nebel, die vor ihm lagen, nun da er die ausgetretenen Pfade seiner Mitmenschen auch offiziell verlassen hatte.
„Wissen Sie, ich gehe tatsächlich keiner geregelten Arbeit nach“, sagte er gedankenverloren, doch da war niemand, der ihn hätte hören können, und nach einer kurzen Nachdenkpause fügte er hinzu: „Aber wer will das schon?“
Die Nacht schwieg in Zustimmung.