„Funktioniert der noch?“, fragte der erste Fahrgast, auf den Anker deutend, „Mir scheint, es fehlt ihm ein wenig an Halt!“
Der Kapitän lächelte schweigend. Durch viele Stürme hatte ihn jener Anker sicher geführt, hatte ihn gehalten, wenn die Wellenberge drohend auf das Schiff zurasten.
„Tatsächlich!“, meinte nun ein weiterer Fahrgast, „Kapitän! Da haben sich Algen angesetzt. Oder Seetang! Grünes Zeug eben! Igitt! So glitschig, wie das ist, rutscht der doch sicher ab!“
Er seufzte. „Nun lassen Sie die Beschaffenheit meines Ankers doch bitte meine Sorge sein.“
„Natürlich, Kapitän. Wir wollten uns nur nützlich machen.“
Schweigend steuerte er das Boot durch die ruhige See, in Gedanken versunken. Was wussten diese Menschen schon von dem Singen, das die Luft erfüllte, wenn er an der alten Kurbel hantierte? Von den Geschichten, die in jenem ‚grünen Zeugs‘ zu entdecken waren? Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, seinen Gästen vorzuführen, was sie verkannt hatten, beinahe drängte es ihn – doch im Grunde wusste er, dass sie unfähig sein würden, das Wunder wahrzunehmen. Der Anker sang nicht auf Befehl, und die Wunder, die er aus den Tiefen des Ozeans an die Oberfläche brachte, waren nicht allen als solche ersichtlich. Seine Magie war nur mit Geduld wahrzunehmen. Es war schade. Gerne hätte er ihnen den Zauber vorgeführt.
Weiter drangen sie in ihn, doch am nächsten Hafen anzuhalten und sich einen funktionierenden Ersatz zu besorgen, und je mehr sie in ihn drangen, je mehr sie ihm ihre Argumente auseinandersetzten, desto verunsicherter wurde er. Was, wenn sie nun doch Recht hatten? Schließlich ließ er sich doch hinreißen und versuchte, an der Kurbel zu drehen, doch der erhoffte Gesang blieb aus. Mit ohrenbetäubendem Quietschen sank der Anker in die Tiefe, schien aber keinen Grund zu finden, denn das Boot stieß weiter ungehindert durchs Wasser.
„Was haben wir gesagt?“, meinte der erste Fahrgast überlegen.
„Es ist doch nur zu Ihrem Besten, Kapitän. Wir machen einen kleinen Zwischenstopp an Land, tauschen das alte Teil für ein Funktionierendes, und sind sofort wieder in See. Das tut niemandem weh und hilft allen.“
Was, wenn sie Recht haben, dachte der Kapitän verunsichert. Was, wenn ich uns alle in Gefahr bringe mit meiner Sturheit? Es war schon seltsam. Noch nie hatte er sich auf See gefürchtet, seit er den neuen Anker montiert hatte, und nun…
Er fixierte das Steuerruder; für die nächsten zwei Stunden konnte er Aufmerksamkeit erübrigen, nichts lag vor dem Boot als offene, glatte See. Während die Fahrgäste weiter aufgebracht über die richtige Funktionsweise eines guten Ankers diskutierten, ging er zurück, um mit dem bisher so verlässlichen Stück alleine zu sein. Warum muss ich mich von dir trennen?, fragte er sich traurig, und Tränen stiegen ihm ins wettergegerbte Gesicht. Er liebte diesen Anker, der ihm Halt schenkte, wo Halt notwendig war, und Bewegungsfreiheit, wo er Maneuvrierfähigkeit brauchte. Der ihm sang, wenn er sich einsam fühlte auf hoher See, sang von den tiefsten Tiefen der Ozeane, die er mit seinem Boot durchkreuzte, der ihm bisweilen Souveniers aus jenen Tiefen an die Oberfläche brachte.
Plötzlich drängte sich ihm ein mentales Bild auf, durch all seine Sorgen und Ängste hindurch: einer der Fahrgäste, wie er den‘ Seetang‘, mit dem er sich beim Berühren des Ankers ‚befleckt‘ hatte, angeekelt an der Reling abzuwischen versuchte. Sie sind nicht wie wir, überwältigte ihn heiß die Erkenntnis, sie wollen nur sicher über den Ozean kommen. Sie wollen nicht sehen, was unter der Oberfläche zu finden ist, sie wollen nicht hören, wovon du singst. Aber ich will es, muss es! Und wenn du keinen Grund mehr findest, an den du uns binden kannst, weil du in Tiefen vorstößt, die niemand vor dir errungen hat – bleib bei mir! Die wichtigste Verbindung ist mir nicht die an einen sicheren Grund, sondern jene zwischen uns! Bleib! Wir werden sie sicher in den Hafen bringen, unsere Gäste, wo sie ihren Freunden Karten schreiben von ihren ‚Abenteuern‘ auf See. Dann werde ich dich auswerfen, und du wirst für mich singen, von all dem, was kaum ein Menschen Auge wagt zu erblicken, und ich werde an dir festhalten, auf dass du furchtlos tiefer vorstoßen kannst, wissend um meinen Halt wie ich um den deinen. Wir werden uns halten, durch Stürme wie durch ruhige See, und unsere Fahrgäste werden schimpfen und lachen über uns, aber das wird uns egal sein, denn sie sind nicht wie wir, sie können nicht verstehen, oder vielleicht wollen sie, trauen sie sich auch nicht. Mein Anker, mein zauberhafter Anker, ich bleibe dir verbunden!
Und mit einem Male ertönte ein leises Summen, beinahe ein Ton, wie aus den tiefsten Tiefen der Ozeane, entfernt. Seine Fahrgäste schienen nichts gehört zu haben, sie fachsimpelten eifrig weiter über Funktionsweisen verschiedenster Teile eines Bootes. Sich erinnernd an frühere Fahrten begann er zu pfeifen, zu singen, zu frohlocken, und der Ton aus der Tiefe begleitete ihn, ließ ihn nicht mehr los. Wie schön, dich wieder um mich zu haben, dachte er beglückt, und all die Angst und die Zweifel fielen von ihm fort, wie sie es immer getan hatten und wohl auch immer tun würden.