„Aber das kann man doch nicht machen!“, rief die Zaghaftigkeit, als Mut vorschlug, einfach mal loszulegen und dann zu sehen, wohin die Sache führen würde, und: „Wo kämen wir denn hin?“
„Exakt“, legte Mut nach, „diese Frage interessiert mich.“
„Wollen wir nicht lieber erst einmal darüber schlafen?“, schaltete sich nun auch die Bequemlichkeit ein. „Oder etwas essen? Essen schadet nie…“
„Das nenn ich ein Wort!“, rief der Hunger erfreut. „Da zeichnen sich demokratische Mehrheiten ab, die mir gefallen!“
„Gusch!“, schrie der Überrest der Elternpersönlichkeit ins allgemeine Durcheinander, und stellte überrascht fest, dass sich tatsächlich ausnahmsweise alle daran hielten, was sie verlangte. Das war schon so lange nicht mehr vorgekommen, dass sie mit der ihr nun geltenden Aufmerksamkeit leicht überfordert war und nur ein weiteres, etwas zögerlicheres „Gusch!“ hervorbrachte.
„Das ist jetzt aber nicht sehr vorzeigbar“, meinte die Perfektion vernichtend, „man darf doch hoffentlich hoffen, dass da ein wenig mehr von der angeblich so erwachsenen Persönlichkeit kommen wird?“
„Jetzt lass die Arme doch ein einziges Mal in Frieden!“, verteidigte die Empathie die Überforderte, „Siehst du denn nicht, dass sie sich bemüht? Reicht das denn nicht? Bist du denn selbst immer so perfekt und fehlerlos?“
„Selbstredend“, antwortete die Perfektion, und die Empathie musste zugeben, dass sie im Eifer ihres Beschützerinstinkts nicht sonderlich gut nachgedacht hatte. Nun befand sie sich wieder einmal in der Defensive.
„Will mir denn niemand zuhören?“, schrie die Wut, und entsprechend der Reaktionen vor und nach dem Versuch, sich Gehör zu verschaffen, entsprechend wütend.
„Geh auf dein Zimmer!“, versuchte sich der Überrest der Elternpersönlichkeit durchzusetzen, doch irgendwie funktionierte das nicht mehr so gut wie früher. Es war bei dem Halunken immer ein wenig schwer festzustellen, ob er es ernst meinte, aber Humor mochte vielleicht sogar gelacht haben. „Dieser respektlose –“, fing der Überrest der Elternpersönlichkeit an, stockte jedoch überrascht, denn mitten im Satz war nun plötzlich doch Respekt aufgetaucht und hatte sich in respektvollem Abstand zu Humor gesellt, der das alles natürlich wieder einmal unglaublich witzig zu finden schien.
„Will denn keiner von euch Idioten wissen, was wir erreichen könnten, wenn wir endlich mal loslegen mit der Arbeit?“, schrie Wut nun zum dritten Mal allen Anwesenden die Ohren voll.
„Naja, so wird das sicher nichts Brauchbares“, zuckte Perfektion mit den Schultern, „da brauchen wir gar nicht anfangen.“
„Perfekt!“, lobte die Bequemlichkeit und genoss weiter seine Siesta. Hunger schlug vor, sich mal kurz was zu Essen zu machen, dann hätte man doch sogar was Positives erreicht nach all dem Hickhack. Die Empathie, die kein großer Freund der Wut war und ihr alleine schon aus diesem Grund gerne widersprach, hielt das für eine grandiose Idee, und so einigte man sich auf eine halbe Tafel Schokolade. Für alles andere war die Bequemlichkeit nicht zu haben, denn das hätte am Ende noch wirkliche Arbeit bedeutet, und wo kämen wir denn da noch hin…
Nachdem die Wut noch eine Weile rumgetobt hatte – dieser Halunke von Humor hatte darüber auch noch gelacht, da war sie sich ganz sicher! – fühlte sie sich ganz nebelig im Kopf, fast als wäre sie plötzlich verraucht. Da beschloss sie mangels sinnvollem alternativen Tagesplan eben das innere Zentrum zu besuchen, wo hinter der Wohnung von Traurigkeit das Kind wohnte.
Irgendwann früher, so tuschelte man, war dieses Kind mal in eine unangenehme Situation geraten und hatte sich dabei böse verletzt, und nun hatte es Schwierigkeiten, der Welt da draußen so wirklich zu vertrauen.
Als Wut in seiner verrauchten Form auf dem Weg zum Kind war, fiel ihm wieder ein, warum er überhaupt so wütend gewesen war. Es war sein Auftrag gewesen, sich durchzusetzen. Gegen den Rest der Elternpersönlichkeit. Die Bequemlichkeit. Die Perfektion. Selbst gegen die Freude, die keine große Freude mit den anderen Anteilen hatte, die ebenso im Inneren wohnten. Und er hatte versagt.
Doch als er dort ankam, wo das Kind wohnte, fand er auch die anderen bereits dort.
„Oje, das könnte unbequem werden!“, fürchtete die Bequemlichkeit, als sie vom Kind über die möglichen Konsequenzen des Wieder-einmal-nicht-Handelns aufgeklärt worden war.
„Perfektion ist tatsächlich etwas Anderes!“, fiel die Perfektion ein.
„Man kann doch auch alles mit Humor sehen…“, wollte der Humor die Stimmung auflockern, doch die eben erst angekommene Wut brachte ihn mit einem wütenden Blick zum Schweigen.
Doch dann plötzlich lachte das Kind laut auf. Lachte so lange, bis es weinen musste (worüber sich Traurigkeit, die sich mittlerweile auch angeschleppt hatte, heimlich freute), während die Wut sich in seinen Augen wiederspiegelte.
„Das alles bin ich also!“, sagte es gut gelaunt, „Verletzt, traurig, wütend, fröhlich, bequem, ängstlich, mutig und noch viel mehr! Was für ein Theater! Was für eine herrliche Show! Langweilig wird einem ja nicht mit euch!“
Und mit einem Mal fühlte es sich gar nicht mehr so verletzt, gar nicht mehr so getrennt von der Welt, zog sogar die Möglichkeit in Betracht, ihr ein ganz kleines Bisschen Vertrauen schenken zu können. Wenn die Perfektion nur ein kleiner Anteil seines Selbst war, war es um die Welt wohl nicht viel besser bestellt. Wohl fühlte es sich verletzt, wütend, ängstlich. Aber da war mehr in ihm, als es sich zugetraut hatte. Vielleicht war auch von der Welt mehr zu erwarten, als es gedacht hatte.
„Wir wollen lieber nicht zu große Schritte auf einmal machen“, schlug die Bequemlichkeit vor.
„Ja, lass uns mit ganz kleinen Schritten loslaufen, damit auch wirklich alle zufrieden sein können“, sagte das Kind lachend, und Mut freute sich, seine alten Bekannten Übermut und Verrücktheit endlich wieder einmal in der Gegend zu sehen. Das versprach ja ein interessanter Ausflug zu werden.